Rezension von Marina Weisband: Wir nennen es Politik
Die Ferienzeit hat mir einen Koffer voller Bücher und Zeit zur Lektüre beschert. Einen Titel davon möchte ich hier vorstellen, und zwar Weisband, Marina (2013). Wir nennen es Politik: Ideen für eine zeitgemäße Demokratie. Stuttgart: Tropen-Verlag Label von Klett-Cotta.
Zwar liegt der Text sicher ausserhalb meiner üblichen Befassung (Lehre mit neuen Medien), aber um letztere geht es hier sicher auch und bei diesen auch um einen Aspekt der Macht und Partizipation, was für meine Lehre in der Führungsausbildung relevant ist.
Ein Aspekt, der mich zuerst persönlich beschäftigt hat, liegt abseits des Buchthemas. Der (leicht lesbare) Text ist von einer jungen Autorin verfasst, die ihren Einstieg in die Politik bei der Piratenpartei und ihre Reflexionen über Sinn und Wirkung von Politik beschreibt. Die Aussagen sind für mich zuerst insofern bedeutsam gewesen, als sie die politische Autobiographie einer jungen Migrantin in Deutschland spiegeln. Dabei finde ich beachtlich, dass und wie die Autorin sich engagiert und Verantwortung einnimmt, auch wenn ich vielen ihrer Setzungen, Argumente und Schlüsse nicht folgen kann. Die Lesweise, die Biographie einer jungen Migrantin in der Hand zu haben, ist sehr interessant, denn sie lebt vor, was Engagement und Beteiligung sind, wenn man sie Randgruppen ermöglicht. Und das geht weit über das hinaus, was die etablierte Gesellschaft in aller Regel selbst leistet. Insofern gibt der Text ein höchst erfreuliches Signal. (Und ich freue mich als Deutscher und Emigrant, dass das in meiner Heimat möglich und Praxis ist.)
Schaut man auf die angestrebte Aussage, fallen mir zuerst einige Widersprüche auf. Im Kern geht es der Autorin darum, einer breiten Masse Partizipationschancen zu eröffnen, indem man ihr Verantwortung ermöglicht und überträgt. Gleichzeitig aber moniert sie – völlig zu Recht – den unsäglichen Stil der Kommunikation und des Umgangs miteinander, sei es in der Politik oder sonstwo in der Öffentlichkeit.(S. 138ff) Und eben der zeugt von allem anderen als Reife und Erwachsensein. Andererseits argumentiert sie (S. 169), dass man nicht erst Reife erwarten könne, bevor man Verantwortung ermögliche, sondern dass diese umgekehrt folge, wenn man jene ermögliche. Entwicklungspsychologisch hat sie Recht. Aber sozialpsychologisch auch? Ich hege Zweifel an der Reife und Zivilisiertheit der öffentlichen Diskussion. Vielmehr sehe ich deren Niveau stetig sinken und ebenso das der durchschnittlichen Bildung, von Weisband sagt, sie seie eine wichtige Voraussetzung politischer Partizipation. Die Delegation von Mitteln und Verantwortung eröffnet auch die Frage, ob eine Masse nicht dumm und vor allem verführbar genug ist, wieder Fehler wie im 3. Reich zu begehen – oder einfach nur einen noch unsäglicheren und menschenfeindlicheren Konsumismus und Egoismus zu entwickeln, als wir ihn eh schon haben. Dieser Vorbehalt jedoch lässt sich mit ihrem Argument auch wieder entkräften – eine Tautologie, die man wohl nur durch stückweises Probieren und Erfahren lösen kann. (Und genau das ist auch ein Vorschlag der Autorin.)
Schaue ich auf die Ebene der Sachargumente und -beschreibungen, dann gefallen mir zwei Teile ihres Buches besonders:
1. Die Beschreibung von Prozess und Instrumenten der liquiden Demokratie (S. 77ff) bzw. des liquiden Feedbacks (92ff). Was den Prozess angeht sind Erfahrungen interessant, wie dass die Übertragung politischer Rechte auf andere in dieser Sphäre zu einer “Zeitelite” (S. 76) und zu einer „Expertokratie“ (S. 80) führen könne. Das sind in meinen Augen sehr interessante Aspekte eine möglichen zukünftigen technischen Entwicklung.
Die obige Argumentation um die Angemessenheit des zugrundeliegenden Menschenbildes greift hier ebenfalls wieder. So ist zu fragen, ob die Macht der Laien qualitativ bessere Entscheide ermöglicht als die der Profis und Experten (s. Die Argumentation von A.J.Keen [1] im “Kult des Amateurs”).
2. Interessant waren für mich auch die Informationen um die Instrumente des liquiden Feedbacks. Innerhalb der Piratenpartei setzten die Berliner erstmals dedizierte Software für das liquid feecback ein (S. 96). Inzwischen nutzt die friesische Kommunalpolitik solche Instrumente, was den Bürgern transparente Kommunikation und Partizipation erlaubt.(S. 101)
Weisband erkennt in der Nutzung liquiden Feedbacks eine Prozessoptimierung von Entscheidungen durch verbesserte Fehlerkorrektur. (Voraussetzung sei allerdings, dass die Nutzer wirklich ein Interesse an der jeweiligen Frage hätten.)(S. 100f) Die oben geführte Argumentation mündet hier in die Frage, ob ein relevantes und verantwortungsbehaftetes Risikomanagement tatsächlich besser funktionieren kann, indem man Crowdsourcing einsetzt.
Die Kernfrage des Menschenbildes hinter den neuen Partizipationsmöglichkeiten und deren konstruktiver Nutzung lässt sich wohl nicht akademisch oder durch Reflexion, sondern nur durch Praxis und Erfahrung und folgende stückweise Revision von Prozessen und Entscheidungen klären. Insofern hat die Autorin Recht und mir einen wichtigen Gedankenanstoss gegeben.
[1] Keen, Andrew J. (2007). The cult of the amateur: how blogs, MySpace, YouTube, and the rest of today’s user-generated media are destroying our economy, our culture, and our values (1st paperback ed.). New York: Doubleday.